Zen und Psychologie

© Mario Trinkhaus

Zen – was bewirkt es im Menschen?

Da sitzt man mit gekreuzten Beinen, auf einem Kissen, einer weißen Wand gegenüber und soll sich darin üben, nicht zu denken…
Nur die Atmung beobachten…
Aufkommende Gedanken nur betrachten und vorbeiziehen lassen…

Bei vielen Menschen kommt ziemlich schnell die Frage nach dem tieferen Sinn hoch.

Ich möchte es heute mal nicht religiös, sondern psychologisch betrachten.
Dieses Sitzen vor der weißen Wand ist ein hervorragendes Hilfsmittel, um sich selbst zu beobachten.

Was steigt da in mir auf?

Bin ich geneigt aufzustehen und wegzulaufen…
…möchte ich dem Schmerz in den Beinen nachgeben, oder bin ich bereit ihn zu ertragen.
Was sind meine Grundbedürfnisse; was meine Ängste; wodurch und wann sind sie entstanden; kann und möchte ich etwas daran verändern oder lass ich alles so laufen, wie es eben läuft?

Natürlich stellen wir stets fest, dass wir anders sind als die anderen und dass es keine Schublade gibt in die man uns stecken kann. Auf alle anderen treffen die psychologischen Grundmuster schon eher zu, doch bei uns auf keinen Fall.

Doch letztendlich wird man sich bei längerer Selbstbeobachtung wirklich kennen lernen und feststellen, dass da einiges zum Vorschein kommt, was wir vielleicht nicht mögen, aber auch positive Eigenschaften, die wir noch stärker ausprägen könnten.

Nehmen wir das psychologische Standardwerk von Fritz Riemann „Grundformen der Angst“, so wird deutlich, dass wir, wie bei einer Waage, selbst etwas dazu beitragen können, um die Waagschalen auszugleichen. Die Persönlichkeitsstruktur ist sicherlich bei jedem Menschen in diesem „System“ etwas einseitig ausgeprägt, doch durch die Selbstbeobachtung, können wir unsere „Schwachstellen“ aufdecken und etwas korrigieren.

Das geht aber nur, wenn wir nicht nachlassen in der erforderlichen Achtsamkeit. In das alte Muster fallen wir ohne unser zutun immer wieder zurück, doch um das Neue zu festigen, ist die achtsame Beobachtung und korrektur unerlässlich.

Eine kleine Zen Geschichte, bringt das sehr schön zum Ausdruck:
„Meister, sagt mir bitte einige Grundregeln der höchsten Weisheit.“
Der Meister antwortete:
„Aufmerksamkeit“.
„Ist das alles?“ fragte verwunderte der Mönch.
Daraufhin sagte der Meister:
„Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit.“


Riemann erläutert die Ängste anhand des Gleichnisses der vier Bewegungen der Erde:

Die Erde dreht sich um die Sonne, was er eine Revolution oder „Umwälzung“ nennt. Das Zentrum der Rotation liegt außerhalb der Erde. Wenn diese Rotation von der Erde verneint werden würde, müsste sie selbst zur Sonne werden und wäre der Mittelpunkt der Welt.

Dann dreht sich die Erde um die eigene Achse, d.h., sie vollzieht also eine „Eigendrehung“ und hat somit das Zentrum der Rotation in sich. Wenn diese aufgegeben werden würde, wäre die Erde nur noch der Mond von der Sonne und würde unter deren Abhängigkeit stehen.

Die Schwerkraft, das Zentripetale, ist die Kraft, die zur Mitte strebt, also nach innen. Gäbe es diese nicht, würde die Erde auseinanderbrechen.

Die Fliehkraft, das Zentrifugale, ist die Kraft, die der Mitte flieht, also nach außen strebt. Ohne diese würde die Erde erstarren und wäre zur Unveränderlichkeit verdammt.


Aus den vier Grundformen der Angst lassen sich vier Persönlichkeitsstrukturen ableiten.

Der depressive Mensch: Die Erde umkreist die Sonne. Das Zentrum der Rotation liegt außerhalb der Erde. Genau dieser Effekt tritt auch bei einigen menschlichen Persönlichkeiten auf: Sie rotieren im übertragenen Sinne um andere Menschen herum. Dabei versuchen sie die Rotation um sich selbst herum so weit wie möglich zu unterbinden. Diese Menschen sind im weitesten Sinne als Gruppenmenschen zu bezeichnen. Die zugrundeliegende Angst ist die Angst vor der Selbstwerdung, die als Ungeborgenheit und Isolation erlebt wird. Die gefühlsmäßige Trennung von seiner sozialen Umwelt bedeutet für ihn einen kleinen Tod.

Der schizoide Mensch: Die Erde rotiert um sich selbst und hat somit das Zentrum der Rotation in sich. Übertragen auf die menschliche Psyche bedeutet dies, dass der betroffene Mensch mit seinen Gedanken und Gefühlen um sich selbst kreist; dabei versucht er die Rotation um andere Menschen so weit wie möglich zu vermeiden. Hier finden wir häufig Einzelgänger. Seine typische Grundangst liegt darin, dass er sich vor der Selbsthingabe fürchtet, die er als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt. Ein Ich-Verlust bedeutet für ihn nichts anderes als ein psychologischer Tod.

Der zwanghafte Mensch: strebt die Dauer an, möchte sich in dieser Welt häuslich niederlassen und die Zukunft planen. Sein Wunsch ist eine feste, verlässliche, Zukunft. So wie die Zentripetalkraft möchte er alles verdichten, auf das es sich nicht mehr bewegt, damit eine Stabilität gegeben ist. Seine Angst betrifft die Vergänglichkeit, das Irrationale und Unvorhergesehene. Alles Neue ist für ihn ein Wagnis und planen ins Ungewisse ist ihm ein Greuel. In seinem Erleben ist die Vergänglichkeit gleich einem Tod.

Der hysterische Mensch: Er ist immer bereit, sich zu wandeln, Veränderungen und Entwicklung zu bejahen, Vertrautes aufzugeben und alles nur als einen Durchgang zu erleben. Das Neue hat für ihn einen unwiderstehlichen Reiz, das Unbekannte zieht ihn magisch an. Damit verbunden ist die Angst vor Ordnung, Notwendigkeiten, Regeln und Festlegungen. Sein Freiheitsdrang schlägt um in die Angst vor dem Tod als Erstarrung.


Es handelt sich natürlich hierbei nur um ein Model. So wie dieses gibt es noch viele weitere. Als besonders interessant habe ich das Enneagramm kennen lernen dürfen, die nähere Erläuterung würde hier ganz sicher zu weit führen. Auf all diese Hilfsmittel verzichtet Zen, zumindest aus Sicht des Zen-Schülers / Zen-Mönchs, doch bei der Selbstbeobachtung, kann es hilfreich sein, die eigene Persönlichkeitsstruktur besser kennen zu lernen und wenn erforderlich, Wege aus einer Sackgasse heraus zu finden.

Gurdjieff, als einer der das Enneagramm nach Europa brachte, unterschied zwischen unserer wesensgemäßen Natur und der Persönlichkeit, die wir im Laufe unseres Lebens erworben haben.

Wenn wir diese Unterscheidung im Hinblick auf Zen betrachten, dann werden gravierende Ähnlichkeiten sichtbar. So weist uns ein Koan genau auf diese Unterscheidung hin:

Ein Zen-Meister sagte:
„Zeig mir dein Gesicht bevor deine Eltern geboren wurden“

Das Sitzen vor der weißen Wand ist ein hervorragendes Mittel, um zu unserer wesensgemäßen Natur, bzw. zur Buddhanatur, wie sie im Zen bezeichnet wird, zurückzukehren.

Oder ist es gar kein zurückkehren, sondern ein weitergehen, wie es im Hannya Haramita rezitiert wird?
„Lasst uns darüber hinaus gehen,
darüber hinaus und noch jenseits des Darüber-Hinaus,
lasst uns Nirvana erreichen“


Dôgen Zenji gab uns folgendes mit auf den Weg:


»Den Weg studieren bedeutet,
sich selbst studieren.
Sich selbst studieren bedeutet,
sich selbst vergessen.
Sich selbst vergessen bedeutet,
in Harmonie zu sein mit allem,
was uns umgibt.«


Das ist genau der Ur-Zustand in dem sich ein kleines Kind noch befindet.
Da schließt sich der Kreis wieder.

Gasshô

Erst Veröffentlichung 13 Oktober 2005

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